Cover
Titel
Politiken der Arbeit. Perspektiven der Frauenbewegung um 1900


Autor(en)
Isler, Simona
Erschienen
Basel 2019: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
CHF 48,00 / € 48,00
von
Sarah Probst, Interdisziplinäres Institut für Ethik und Menschenrechte, Universität Fribourg

«Die Welt verbessern, die Welt verändern», so resümiert Simona Isler das erklärte Ziel der von ihr untersuchten Akteurinnen. Im Fokus von Islers Buch, das auf ihrer an der Universität Basel entstandenen Dissertation beruht, stehen unterschiedliche Perspektiven auf Arbeit innerhalb der Schweizer Frauenbewegung um 1900. Ausgehend von einem «Unbehagen» (S. 14) gegenüber aktuellen feministischen Diskursen, wonach weibliche Emanzipation einzig über Erwerbsarbeit erreichbar sei, fragt die Autorin nach der Bedeutung von Arbeit für feministisch engagierte Frauen um die Wende zum 20. Jahrhundert.

Zu diesem Zweck untersucht sie drei nationale Verbände, welche die heterogene feministische Landschaft der Zeit abbilden: den Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein (SGF), den Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF) sowie den Schweizerischen Arbeiterinnenverband (SAV). Feministisch wird in der Arbeit als «beschreibendes Adjektiv» (S. 31) für jedes Engagement zur Verbesserung der Lage der Frauen verwendet – keine der drei Organisationen beanspruchte den Begriff für sich. Die historischen Akteurinnen selbst sprechen zu lassen, ist ein erklärtes Anliegen. Methodisches Rüstzeug findet Isler einerseits in der französischen Soziologie der Kritik, die «kritische Ansätze bei den Akteurinnen selbst suchen und finden» (S. 27) will, ohne deren Argumente von der Perspektive der Forscherin überdecken zu lassen. Andererseits folgt sie einer «Symmetrie der pluralen Perspektiven» (S. 29), wonach die verschiedenen Gründe und Argumente der Akteurinnen gleichermassen als rechtmässig betrachtet werden sollen. Dies stellt methodisch eine Herausforderung dar, welche die Autorin jedoch gut meistert. Gerade mit der Skizzierung heterogener Perspektiven auf weibliche Arbeit gelingt es ihr, die in der Geschlechtergeschichte lange wirkmächtige Vorstellung einer dichotomen Geschlechterordnung – einer Unterteilung der Welt «in öffentlich-männliche und privat-weibliche Bereiche» (S. 244) – zu hinterfragen.

Der Hauptteil der Studie ist in vier thematische Teile gegliedert, in denen jeweils alle Verbände zu Wort kommen. Das erste Kapitel widmet sich ihren Gesellschaftsanalysen und dem jeweiligen Selbstverständnis (I). Gemeinsam ist den Einschätzungen, dass die Industrialisierung zu einem grundsätzlichen Wandel der Arbeits- und Lebensweisen von Frauen geführt habe. Entsprechend ihrem unterschiedlichen Verständnis von Arbeit variieren die Handlungsansätze jedoch massgeblich. Die folgenden Kapitel verdeutlichen dies am Beispiel ihrer Bestrebungen für eine verbesserte Bildung für Mädchen und Frauen (II), für eine Verbesserung der Lage der Arbeiterinnen durch gesetzliche Massnahmen
und sozialstaatlichen Ausbau (III) sowie anhand ihrer jeweiligen Lösungsansätze in der sogenannten Dienstbotinnendebatte, d. h. in den zeitgenössischen Diskussionen rund um den Mangel an respektive die Not der Dienstbotinnen (IV).

Für die Politik des BSF, der sich selbst in Abgrenzung zum gemeinnützigen Engage-ment des SGF «auf der Höhe der Zeit und des Fortschritts» (S. 62) verortete und insbesondere gebildete Frauen ansprach, war die konzeptuelle Trennung von Arbeit und Lebender Frauen grundlegend. Diesem dichotomen Denken folgend, sahen die Vertreterinnen des BSF in der industrialisierten Gesellschaft mehrheitlich Chancen für Frauen, da letztere der veralteten häuslichen Gemeinschaft entkommen und auf die «moderne, individualisierte, zukunftsgerichtete Seite der staatsbürgerlichen Gemeinschaft» (S. 245) gelangen konnten. Insbesondere eine verbesserte Berufsbildung für Frauen sollte zu diesem Ziel führen. Die mit dem Verlassen des Hauses realisierte Gleichheit von Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit diente dem BSF als Grundlage für die Forderung nach gleichen Rechten. Diesem umfassenden Gleichheitsprinzip widersprach der vom SAV eingeforderte Anspruch auf einen spezifischen Schutz für Fabrikarbeiterinnen: einzig für Frauen im Wochenbett erschien dem BSF eine geschlechterspezifische Regelung sinnvoll.

Den Politiken des SGF und SAV lag kein dichotomes Verständnis von Haus und Welt zu Grunde. Aus der Sicht des SGF veranlassten die Nöte der Zeit Frauen dazu, das Haus zu verlassen, um «sich der Welt anzunehmen» (S. 45). Gerade die häuslichen bzw. hauswirtschaftlichen Fertigkeiten waren gefragt, um die Welt zu verändern: die Vertreterinnen des SGF betonten die ökonomische Bedeutung des hauswirtschaftlichen Arbeitens für die ganze Gesellschaft und leiteten davon ihre Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung ab. Laut dem SGF sollten alle Frauen hauswirtschaftliche Bildung erhalten, Fabrikarbeit wurde hingegen zurückgewiesen, da sie nicht den Kriterien der «liebenden Arbeit» (S. 167) entsprach. Vielmehr waren die gemeinnützig engagierten Frauen darum bemüht, Arbeiterinnen ein Einkommen in der Heimarbeit oder im Dienst zu finden. Während der BSF und insbesondere der SAV das Dienstbotinnenwesen als rückständig respektive ausbeuterisch kritisierten, verteidigte der SGF die hier weiterhin wirksame asymmetrische häusliche Ordnung. Sie beruhte jedoch auf «pluralen Hierarchisierungskriterien» (S. 234): neben Stand waren Alter, Erfahrung und Bildung von Bedeutung für eine überlegene Position im häuslichen Gefüge, die potenziell allen Frauen zugänglich sein sollte.

Der SAV betonte das Elend, das die kapitalistische Produktionsweise verursachte und verstand sich als Interessensvertretung aller Frauen und Arbeiterinnen, die nicht in Berufsverbänden organisiert waren. Neben Fabrikarbeiterinnen sprach der Verein auch Dienstbotinnen, Heimarbeiterinnen und Hausfrauen an: Überall arbeiteten Frauen für die eigene Versorgung und diejenige ihrer Mitmenschen. Die Selbstbezeichnung «proletarische Frauenbewegung» (S. 78) verdeutlicht einen eigenen Standpunkt sowohl gegenüber der männlich dominierten ArbeiterInnenbewegung wie auch der «bürgerlichen» Frauenbewegung. Anhand der Forderungen des SAV nach spezifischen gesetzlichen Bestimmungen für möglichst alle Arbeiterinnen widerlegt Simona Isler eine gängige Darstellung der Frauengeschichte, wonach die «Sonderschutzmassnahmen» im Fabrikgesetz eine diskriminierende Wirkung auf die Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt gehabt hätten. Eine privilegierte Behandlung der Frauen war aus Sicht des SAV gerechtfertigt, um die schlechteren Arbeitsbedingungen der Frauen abzufedern: Sie hatten einen besonders eingeschränkten Zugang zu Ressourcen wie Zeit, Geld und Gesundheit und waren stärker von Ausbeutung betroffen. Mit der Betonung der ausgeprägteren Ausbeutungssituation sowie dem zentralen Sorgebeitrag proletarischer Frauen, so argumentiert Isler überzeugend, verfolgte der SAV keine Politik für «den weiblichen Sonderfall» (S. 245), sondern rückte die Frauen ins Zentrum des Klassenkampfs.

«Politiken der Arbeit» erweist sich als durchgehend anregende Lektüre – zu bemängeln ist einzig die etwas repetitive Struktur, die gleichzeitig das Argument umso klarer konturiert. Die Studie leistet einen wertvollen Beitrag sowohl zur Historisierung von Arbeit – dem gängigen Verständnis nach dichotom gegenüberstehend zur Sphäre des Privaten – sowie zur Historisierung des Feminismus – dessen Rekonstruktion oft entlang aktueller Fortschrittsparadigmen erfolgt. Nicht zuletzt regen die unterschiedlichen feministischen Konzeptionen von Arbeit um die Wende zum 20. Jahrhundert dazu an, darüber nachzudenken, wie sich Arbeit in Zukunft aus feministischer Perspektive politisieren lässt.

Zitierweise:
Probst, Sarah: Rezension zu: Isler, Simona: Politiken der Arbeit. Perspektiven der Frauenbewegung um 1900, Basel 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 322-324. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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